Disruption: Wandel nutzen
ChatGPT: Hype oder disruptiver Megatrend?
ChatGPT und generative KI werden Auswirkungen auf viele Branchen haben. Erfahren Sie, was das für Anleger bedeutet
Das Wichtigste in Kürze
- ChatGPT und generative KI werden Auswirkungen auf viele Branchen haben
- Das Gesundheits- und Bildungswesen dürften besonders stark betroffen sein
- Die Hardware- und Halbleitersektoren treiben die Realisierung des Potenzials generativer KI voran
- Die Auswirkungen generativer KI betreffen nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Bereiche wie Kunst und Wissenschaft – das wird ethische und rechtliche Fragen aufwerfen
Der vor kurzem gestartete Chatbot ChatGPT hat einen enormen Hype ausgelöst und eine Debatte über den Umgang mit KI angestoßen, die nicht nur die Fachmedien beschäftigt. Durch das von OpenAI entwickelte Sprachmodell ist KI über Fachmedien hinaus in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Grund für die große Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit ist die Fähigkeit des hochentwickelten Tools, Texte zu produzieren, die von Menschen stammen könnten. Einem Beobachter zufolge ist ChatGPT der „beste jemals zur öffentlichen Nutzung freigegebene KI-Chatbot“1 . Andere bezeichnen den Erfolg der Software als Wendepunkt in der Massenmarkttauglichkeit von KI.2
Das Fachinteresse an den möglichen Auswirkungen der neuen Technologie – einschließlich ihrer potenziellen Risiken und Schattenseiten – überrascht nicht und zeigt sich in Artikeln zu den möglichen Umwälzungen in den unterschiedlichsten Bereichen, von Geopolitik3 über Cyberkriminalität4 bis hin zur Kundenerfahrung.5 Mit seinen weitreichenden Einsatzmöglichkeiten in vielen Bereichen unseres Lebens-und Arbeitsalltags geht ChatGPT weit über alles hinaus, was traditionell mit dem Begriff „Technologie“ verbunden wird – und wird daher auch Auswirkungen für Anleger in einem breiten Spektrum von Sektoren haben.
Eine aus Anlegersicht entscheidende Frage ist, welchen Branchen die größten Umwälzungen durch diese Technologie bevorstehen. Wir haben ChatGPT selbst dazu befragt: „Welche fünf Branchen werden von ChatGPT revolutioniert und warum?“ Im Folgenden skizzieren wir die Antworten des Chatbots und werfen einen genaueren Blick auf die Auswirkungen für Anleger.
- Kundenservice: ChatGPT kann den Kundenservice automatisieren und rationalisieren. Durch schnelle und präzise Antworten auf Anfragen können Wartezeiten reduziert und die Kundenzufriedenheit erhöht werden.
- Gesundheitswesen: ChatGPT kann medizinisches Personal bei der Diagnose und Behandlung von Patienten unterstützen, Zugang zu riesigen Mengen an medizinischen Informationen bieten und helfen, bessere Patientenergebnisse zu erzielen.
- Bildung: ChatGPT kann die Art und Weise, wie Menschen lernen, revolutionieren. Durch eine personalisierte und interaktive Bildungserfahrung kann ChatGPT effizientere und effektivere Lernprozesse ermöglichen.
- Finanzwesen: ChatGPT kann bessere finanzielle Entscheidungen auf der Grundlage von Echtzeit-Marktanalysen und Anlageempfehlungen ermöglichen und so zu besseren Anlageergebnissen beitragen.
- Einzelhandel: ChatGPT kann den Einzelhandel durch ein personalisiertes Einkaufserlebnis transformieren und so effizientere Produktempfehlungen ermöglichen und die Kundenzufriedenheit erhöhen.
Bei den fünf von ChatGPT hervorgehobenen Anwendungsfeldern handelt es sich um Bereiche der Wirtschaft, in denen generative KI bereits zu spürbaren Veränderungen führt oder zumindest eindeutig disruptives Potenzial hat. Im Einzelhandel und Kundenservice sorgen ChatGPT und ähnliche Anwendungen durch ihr Alleinstellungsmerkmal – die Fähigkeit zu menschenähnlichen Interaktionen und Gesprächen – für ein ganzheitliches Kundenerlebnis.
Gesundheitsversorgung und Bildung sind zwei weitere Bereiche, in denen die disruptiven Auswirkungen generativer KI in den nächsten Jahren sehr deutlich werden könnten. Beide Branchen werden sich dabei jedoch mit ganz eigenen Herausforderungen konfrontiert sehen. KI und maschinelles Lernen werden in der Medizin und im Gesundheitswesen schon seit mehreren Jahrzehnten vermehrt eingesetzt. Die völlig neuen Möglichkeiten, die sich jetzt eröffnen, werden jedoch zu radikalen Veränderungen in vielen Bereichen führen – von der Arzneimittelentwicklung und Diagnostik über die Verwaltung von Patientenakten bis hin zu Online-Konsultationen. Da der Gesundheitssektor eine der am strengsten regulierten Branchen der Welt ist, dürfte hier zum Teil zunächst vorsichtiger vorgegangen werden. Ähnliche Herausforderungen werden sich im Bildungswesen stellen. Dieses ist zwar nicht so streng reguliert wie der Gesundheitssektor, steht aber sehr stark unter staatlichem Einfluss. Tatsächlich ist der Staat häufig immer noch der wichtigste – oder sogar einzige – Anbieter von Bildungsdienstleistungen. Neben der Rolle des Staates in diesen Sektoren werden auch soziale und Governance-Fragen in Bereichen zu bewältigen sein, in denen KI beginnt in Aufgaben einzugreifen, die bisher von meist hochqualifizierten Menschen übernommen wurden.
Ein weiterer Bereich, in dem wir bereits Auswirkungen sehen – der von ChatGPT nicht erwähnt wurde –, ist die Automatisierung bestimmter Aktivitäten in Berichtswesen und Vertragserstellung. So hat eine der Top-5-Kanzleien in Großbritannien unlängst angekündigt, künftig ein generatives KI-Tool einzusetzen, das seine Anwälte bei der Erstellung bestimmter Dokumente unterstützen wird.6 Je ausgefeilter diese Tools werden, umso mehr dürften sie in Bereichen wie diesen zum Einsatz kommen.
Ein Blick auf die weiteren Auswirkungen
Ein wesentlicher Sektor, den ChatGPT vergessen zu haben scheint, ist der, der es überhaupt erst möglich macht, dass dieses und andere generative KI-Tools mit ihrer nahezu menschlichen Kreativität und Eloquenz beeindrucken: Hardware. Ohne die Fortschritte bei Halbleitern und anderer Hardware wäre die sprunghafte Entwicklung des maschinellen Lernens, der KI und ihrer jüngsten Ausprägung, der generativen KI, in den letzten Jahren nicht denkbar gewesen. Für die Verarbeitung der riesigen Datenmengen, die für das Training von KI-Tools wie ChatGPT erforderlich sind, bedarf es insbesondere spezialisierter Halbleiter und Computerchipsysteme, die ursprünglich für die besonderen Anforderungen der Grafikverarbeitung entwickelt wurden. Kein Wunder also, dass die Halbleiterindustrie im Handelskonflikt zwischen den USA und China eine zentrale Rolle spielt. Tatsächlich hat die jüngste Ankündigung eines großen chinesischen Unternehmens, einen eigenen generativen KI-Chatbot auf den Markt zu bringen, diesen Wettstreit um eine weitere Dimension erweitert. Die geopolitischen Auswirkungen konkurrierender Systeme aus verschiedenen Ländern sind ein Faktor, den Anleger in den kommenden Jahren genau im Auge behalten sollten.
Nicht außen vor zu lassen sind die ethischen Auswirkungen von Anwendungen wie ChatGPT. Natürlich sind viele neue und disruptive Technologien mit Risiken verbunden, die ethische Fragen aufwerfen. Im Fall generativer KI können diese jedoch besonders akut sein. Die zuletzt zunehmende Verbreitung von „Deepfakes“ zum Beispiel könnte das Problem der Fake News massiv verschärfen. Tatsächlich werden computergenerierte Texte, Bilder und Videos die Maßstäbe, nach denen wir Informationen als wahr oder unwahr beurteilen, ins Wanken bringen. In der Praxis werden Bereiche wie Kunst und Wissenschaft neue Wege des Umgangs mit solchen Anwendungen entwickeln müssen, und der Gesetzgeber wird sich mit urheberrechtlichen Fragestellungen in Bezug auf das Eigentum an KI-generierten Inhalten befassen müssen. In den Fokus gerückt wurden diese Fragen jüngst durch die italienische Datenschutzbehörde, die OpenAI für die Verarbeitung italienischer Nutzerdaten verbot und somit ChatGPT in Italien sperrte.7 In verschiedenen Teilen der Welt wird zudem die Nutzung von ChatGPT an Schulen und Universitäten kontrovers diskutiert.
Die Anlegerperspektive
Die Antworten, die uns ChatGPT gegeben hat, und die oben erläuterten Auswirkungen verdeutlichen das disruptive Potenzial generativer KI, das von vielen Kommentatoren und Marktteilnehmern vermutlich immer noch unterschätzt wird. Klar ist aber auch, dass unterschiedliche Branchen und Bereiche der Wirtschaft unterschiedlich stark betroffen sein werden. Sie alle werden sich vor eigene Herausforderungen gestellt sehen und in allen wird diese Entwicklung mit unterschiedlicher Dynamik verlaufen. Das gilt auch und besonders für den Hardware-Sektor, der alle Fortschritte in maschinellem Lernen und KI überhaupt erst möglich macht.
Eines dagegen werden viele Branchen erleben: eine Art digitalen Darwinismus mit klaren Gewinnern und Verlierern. Agile Unternehmen, die den aktuellen Durchbruch in Bezug auf den Zugang zu neuen, disruptiven Technologien nutzen, werden zu den großen Gewinnern gehören. Andere könnten zurückbleiben. Für Aktienanleger bedeutet dies, dass sie die vielfältigen Nuancen zwischen und innerhalb der Sektoren bei der Aktienauswahl genauso berücksichtigen müssen wie die unterschiedlichen Auswirkungen der rasanten Weiterentwicklung und des zunehmenden Einsatzes generativer KI.
1 https://www.nytimes.com/2022/12/05/technology/chatgpt-ai-twitter.html
2 https://www.theverge.com/2022/12/8/23499728/ai-capability-accessibility-chatgpt-stable-diffusion-commercialization
3 https://ecfr.eu/article/insights-from-an-ai-author-the-geopolitical-consequences-of-chatgpt
4 https://www.forbes.com/sites/forbestechcouncil/2023/02/24/the-implications-of-chatgpt-on-cybercrime
5 https://venturebeat.com/ai/chatgpt-and-its-implications-for-customer-experience/
6 https://www.ft.com/content/1e34f334-4e73-4677-9713-99f85eed7ba0
7 https://www.bbc.com/news/technology-65139406